Jetzt mal ehrlich!

Jetzt mal ehrlich!

Reinen Rum einschenken oder schönmalen? Sind wir manchmal zu bequem für die unbequeme Wahrheit? Die Sache mit dem ehrlich sein.

Vergangenes Wochenende war meine Family zu Besuch. München, Weihnachtsmarkt, was essen. Ich such ein neues Restaurant raus, das wir testen. Kleine Tradition. Das Wirtshaus „Zum Stiftl“ im Tal ist knallvoll. Wir legen die Jacken auf die Bank, die Kopfhörer ab, Sonnenbrille auf den Tisch. Gönnen uns durch die Karte, erhellen das erste Dezembergrau mit drei Hellen. Nach dem Mittagessen gehts zurück Richtung Marienplatz. Und irgendwo zwischen all den Unerschrockenen, die in den Touristenmassen versuchen, ein einzigartiges Selfie vor der Kirche zu schießen, merke ich: Mein Hals fühlt sich so leicht an. Normalerweise kleben da meine dezenten Kopfhörer. Jetzt ist da Luft. Und wenn die Kopfhörer nicht auf der Wirtshausbank kleben, will ich über die Folgen gerade nicht nachdenken. Wer mich kennt, weiß: Die Dinger sind für mich wie für Kim Kardashian ihre drei Handies, die Powerbank und der Schminkspiegel. In einem.

Bis ich am Restaurant bin, hab ich öfter Fuck vor mich hingeflucht als in drei Tarantino-Filmen zusammen. Mein Highspeed-Walk sieht wahrscheinlich aus, als obs bei der Suche nach einer Toilette um Leben und Tod geht, aber egal. Und ja: die Bedienung nickt freundlich, der Chef höchstpersönlich kommt, schließt eine Schublade auf und drückt mir die Kopfhörer in die Hand, die die Dame in Sicherheit gebracht hat. Verständnisvoll. Er kenne das Modell, und weiß, wies in mir aussah. Ehrlich: Ich weiß nicht, wann ich zuletzt so erleichtert war. Und frage mich: Wann war ich das letzte Mal ehrlich?

Heute. Ich hab einen Fehler gemacht. Der sollte in der Arbeit nicht passieren. Einzelne Prozess-Schritte sind fix definiert. Ich hab eine wichtige Mail vergessen. Man könnte jetzt die Schuld auf viele gleichzeitige Aufgaben schieben. Oder jemand hätte mich ja dran erinnern können. Ne. Das war eine Anfrage, für die ich lang genug Zeit hatte. Ehrlich zu sich selbst sein ist so bequem wie Kater ausschlafen auf nem Nagelbrett, aber ich will erwachsen behandelt werden also muss ich auch erwachsen handeln.

ehrlich sein Gentlemens Journey

Haar aber fair

Beim letzten Friseur-Termin war ich auch ehrlich. Ich hab was nachschneiden lassen, weil am richtigen Bartschnitt einfach mein Wohlfühlen hängt. Bei Orhan, den ihr von der Sneaker-Sammler-Story kennt, ist das kein Problem. So ehrlich und direkt er ist, so viel Ehrlichkeit fordert er auch vom Gegenüber. Bei uns ist das mittlerweile Vertrauen. Weil nur so lernen wir, was dem anderen wichtig ist.

Bequeme Klamotten, unbequeme Wahrheit

„Mit dir macht shoppen echt keinen Spaß“, hat eine Freundin mal gesagt. Klar: Ihre Tüte wollte sich nicht so füllen. Ich sag da einfach ehrlich meine Meinung. Ja sagen, nur damit es schneller rum ist? Nö. Dafür sind wir ja Freunde. Sie weiß, dass sie sich bei der Wahl des Outfits auf mich verlassen kann. Auch nach Variante 23 und mit wartendem Taxi. Und mir macht shoppen zu viel Spaß. Zu gern würd ich mal bei Shopping Queen mitmachen. Und eiskalt mal nur ehrliche Kommentare raushauen. „Ja, also, voll tolles Outfit, die Haare, voll schön, man sieht, am Ende ist dir die Zeit ausgegangen, die Ohrringe sind ein bisschen zu rund und der Lippenstift passt nicht zur Tasche und die nicht zu den Schuhen“. Mehr kommt von der Jury ja nicht. Bla. Die Aufgabe ist doch klar: Zeigt, dass man Stil nicht kaufen kann. Sondern hat. Und ihr den 500 Euro eure Persönlichkeit eintrichtert. Aber unbequeme Wahrheit vor der Kamera sieht einfach nicht so kuschlig aus.

Schein oder ehrlich sein, das ist hier die Frage

Stichwort kuscheln: Ehrlich sein ist beim Dating ja so modisch wie Leopardenleggins, die ihrem Gehege deutlich entwachsen. Was ist, wenn wir merken: Irgendwie springt beim Date der Funke nicht über. Sie ist doch nicht der Typ. Kein Beziehungsmaterial. Ansprechen? Oder auslaufen lassen? Ghosten, wie es fancy heißt. Warten, dass sie das Interesse verliert, einen anderen matcht? Wäre bequemer. Weniger verletztend ist das nicht. Gibt wenig, das ich mehr hasse als unklar stehen gelassen werden. Und wenn ich ehrlich zu mir bin: Ich habs mir in der Vergangenheit auch schon bequem gemacht. Komisch, als Texter nicht die richtigen Worte zu finden. Dabei wäre eine kurze Nachricht eher wie ein Pflaster, das man schnell abreißt. Tut derbe weh, legt sich dann aber. Sich pausenlos zu fragen, was denn jetzt war, nervt mental wie chronische Zahnschmerzen. Ich hab Angst, Absagen zu bekommen. Und vielleicht will ich das Gefühl dem Gegenüber ersparen. Nur kaufen kann sich sie sich davon halt nix.

Ein kurzer ehrlicher Satz kostet Überwindung. Ehrlichkeit ist eine Währung, die im Wert immer steigt. Und auch wenn sie auf den ersten (und zweiten Blick) nicht sofort einzahlt, kann sie für die andere Person doch wertvoll sein.

Wahrheit oder Pflicht

Vorstellungsgespräch, Dating, Job, Freunde: Klar, dass man sich es mit zu viel Ehrlichkeit nicht immer leicht macht. „Truth hurts, and those lies heal“ rappt Drake. Und mag Recht haben. Aber gesund ist es halt auf Dauer nicht. Deswegen das beste Rezept: Ehrlich zu sich selbst sein. Und sich fragen: Wann wart ihr das letzte Mal wirklich unbequem ehrlich?

 

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